19. Wandertag

Kurz hinter Moissac auf dem Weg ins 21 km entfernte Auvillar. Ich laufe auf einem ehemaligen Treidelweg entlang eines Kanals. Die Sonne scheint von links wunderbar. Rechts ein hochaufragender Schlot. Ich habe mich eben beim Bahnhof von Vincent und Israel verabschiedet. Ein bisschen Wehmut oder vielmehr eine gesunde Portion Wehmut dabei. Ich werd die beiden vermissen, die mir mit aller Geduld französisch beigebracht haben. Zum Abschied haben sie noch einmal die Hände hochgereckt. Ultreia, des collegues! Ich wünsche ihnen von Herzen alles Gute und eine wunderbare Woche in Paris, inklusive Disneyland. Zu leben heißt auch Abschied nehmen. Auch wenn es schwer fällt. Und ein bisschen haben sie mich ja doch geändert. Offener gemacht für Menschen und Dinge. Ich möchte noch ein wenig bei den beiden verweilen und ihnen einen schönen Platz in meinen Erinnerungen einräumen. Les collegues. Vielleicht sitzen sie auch grade mit einem Bier in der Hand und prosten mir zu. Ich habe mich nie wirklich erkenntlich gezeigt für die trockenen Instant-Nudeln. Trotz allem war dies sehr viel mehr als gar nichts. Ultreia, ihr Verrückten. Eure Reise, euren chemin setzt ihr woanders fort. So, und nun bin ich wieder alleine unterwegs. Und es soll nicht trist werden, wenn ich es verhindern kann. Ich will den Moment genießen, im Jetzt wandern. Das ist etwas ganz Wichtiges. Ich kann es nicht versprechen, dass ich großartige Menschen kennenlerne. Vielleicht geh ich auch ganz alleine. Aber ich höre das Singen der Vögel und das Wasser zu meiner Rechten und vor allem die Stimme in meinem Kopf scheint mir freundlich zuzunicken und mir zu sagen: Mach dir keine Sorgen. Alles ist gut, wie es ist. Und so wander ich weiter und bin ganz ruhig. Und ganz bei mir.


Ich vermisse Lina. Das Mädchen liegt mir am Herzen. Ihre offene Art und ihre Lebenslust. Das Leben hat schon so eine komische Art an sich. Aber es kommt, wie es kommt und ich habe jedem immer noch alles verziehen. Kleine und große Fehler, Missverständnisse. Und auch die Dinge, die so sind, wie sie sind und an denen niemand Schuld hat. So lebt es sich doch am besten. Die Erde dreht sich schließlich auch um die Sonne.


Die Bäume über mir rascheln und flüstern im Wind. Man muss nur genau hinhören. Vielleicht unterhalten sie sich gerade über mich.


Ich glaub, ich setz mich heut in ein Café, les mein Buch zu Ende und kauf mir ein kleines französisches Buch zum lernen. Zur Bank muss ich auch noch.


Und dann bekommt man nicht, was man begehrt, und Erwartungen werden nicht erfüllt – und mit »man« meine ich »ich« - und schon zieht es meinen Kopf wieder runter und ich geh todtraurig und mit gesenktem Blick den Weg entlang. Ach, was soll's. Ich werde es eh wieder weiterversuchen. Irgendwann und irgendwo und irgendwie werde ich immer zu meiner Mitte finden. Und mehr fällt mir dazu heute nicht ein.


Die Einsamkeit hat mich wieder. Der erste Abend ohne Israel und Vincent und ich bau schon merklich ab. Einen »Flan« in der Boulangerie gegessen und das war's. Obwohl wir grade 18 Uhr durch haben. Es ist vielleicht übertrieben, aber innerlich sterb ich tausend Tode. Ob die Leute mir das wohl am Gesicht ablesen können? Keine Ahnung. Ich habe mich in den Garten zurückgezogen und schreibe dies nieder, weil die Stube, auf der ich schlafe, doch allzu trist ist. Ein Däne, der mir nicht zuhört und dem ich es schon von weitem ansehe, dass er Schnarcher ist. Dazu ist noch ein Pilger dazugekommen, der über mir schläft und der den Mief wie eine Wand in die Stube getragen hat. Zur Krönung des Ganzen hab ich den Verdacht, dass ich mir gestern in dieser Scheiß-Herberge in Moissac Bettwanzen eingefangen hab. Es kratzt am linken Fuß und hört an mehreren Stellen nicht auf, zu jucken. Ausgerechnet. Mein absolutes Hassthema. Erst mal alles mit Spray eingesprüht. Hoffentlich kriechen die Viecher woanders hin. Das wär's noch. Bettwanzen sind echt übel. Da steht alles auf der Kippe. Ich hoffe wirklich, dass es nur Mücken sind. Aber bei meinem Glück. Dazu noch den rechten Knöchel angeknackst und alles irgendwie nicht so dolle. An allen Ecken. Ich hätte mal auch nach Disneyland fahren sollen. Was für ein bescheuerter Abend. Ich hoffe wirklich, es sind nur Mückenstiche. An beiden Füßen, wie ich gerade merke. Alter.


Es fällt mir manchmal unfassbar schwer, die kleinen Dinge wertzuschätzen. Ein Deutscher hat mir eben vom Salat abgegeben, ich hab noch Tomaten hineingeschnippelt, ein Franzose hat mir Brot gegeben, ein anderer Deutscher ein Glas Wein. Notiz für mich: Abends immer eine Flasche Wein parat haben. Damit macht man sich Freunde. Hans, der Däne, sagt grad, die besten Jahre sind zwischen 40 und 50. Wieder was gelernt. 2. Notiz für mich: Hör einfach mal auf Hans. Vielleicht steckt doch mehr in dem Dänen als erwartet. Mal gucken, was Hans sonst noch drauf hat. Hat in den 90ern jedenfalls in Ostdeutschland malocht. Der scheint auch so eine »Ich-scheiß-auf-Alles«-Mentalität zu haben. Ob das wohl auch innen bei ihm so aussieht? Jedenfalls ist er knackbraun. Mal gucken: Vielleicht kommt da noch was von Hans. Oh ja, er hat grade gesagt, dass er gîtes gar nicht reserviert. Und das scheint ja bis jetzt geklappt zu haben. Soll ich immer noch auf Hans hören? Ein Glück hab ich für morgen schon vorgebucht. Die Entscheidung kann ich also auch noch morgen treffen. Warum sind hier eigentlich alle 60+? Ich find, da könnt auch mal ein fesches Mädel mit dabei sein. Und wieso hab ich heut schon 5 Seiten geschrieben? Hoffentlich sind das keine Bettwanzen. Noch mal alles eingesprayt. Soviel für heute. Over and out.

 

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