18. Wandertag

Auf dem Weg von Lauzerte nach Moissac. Kurz vor 10 Uhr. Ich gehe und genieße die Einsamkeit. Warum wollt ich noch mal in eine Großstadt ziehen? Und viel wichtiger: Werde ich beobachtet? Vielleicht muss man die kleinen Fragen zuerst beantworten, bevor man sich an die Rockschöße der Großen heftet. Geh nicht zu schnell, geh langsam. Geh nicht zu weit, sondern genau richtig. Wieso nur hör ich die beruhigende Stimme des Erzählers im Kopf, der Hape Kerkeling im Film gesprochen hat? Naja, so hab ich halt meinen Wanderbegleiter. Sehr beruhigend. Und auch, wenn ich weiß, dass das alles nur Momentaufnahmen sind, bin ich jetzt doch zufrieden. Ich gehe voran und bin dankbar für die Momente der Ruhe, in denen ich mich nur mit mir selbst, der Natur um mich herum und mit Gott beschäftige. Aber jetzt ein schöner Regenschauer à la Camino del Norte, nun, das hätt auch was. Das dürften Zeiten des Ringens mit mir selbst und der stürmischen Natur als Ausdruck dessen werden.


Gleichwohl hab ich das sich schnell drehende Hamsterrad auch gemocht, wenn es sich nur mit der Kraft dessen dreht, was ich mag. Egal, wo ich mich befinde, ich stelle fest – und das soll auch wirklich nur eine Feststellung sein –, dass es bergauf und wieder bergab geht. Und zwischen den Höhenunterschieden gibt es auch die Zeiten, in denen es oben gut läuft und unten – ich glaube aber fast, mit einer kürzeren Dauer – überhaupt nicht läuft oder dass man Zeiten hat, in denen es gleichbleibend monoton und trist ist. Aber mein Geist fühlt sich jetzt gerade sehr ruhig an. Und mir wäre es am liebsten, wenn es so weitergehen würde. Dazu noch ein bisschen französisch lernen. Le soleil et l'ombre. Je part maintenant et je comprit plus des mots jour aprês jour. Je pense, que maintenant je comprit la difference entre »aprês« et »derriere«. Je croix que »derriere« est une description pour une place et »aprês« est un mot pour describer [richtig wäre hier »décrire« gewesen] une distance de temps.


Gestern übrigens Pizza und einen Liter Wein mit Vincent und Israel. Ich werd die beiden missen, wenn sich unsere Wege in Moissac trennen. Keine Ahnung, warum sie mit mir soviel Zeit verbringen. Ich freu mich drüber, ist es doch das genaue Gegenteil vom Marzia-Weg. Ausgezeichnete Leute, diese Kanadier.


Schon seit über einer Stunde keinen Pilger mehr getroffen. Das ist schon gut an diesem Weg. Am Anfang noch ein kleines Kuddel-Muddel, wenn wir unsere gîtes verlassen. Dann kann es aber passieren, dass du den ganzen Tag keinen mehr triffst. Im Gegensatz zum März find ich das jetzt aber nicht schlecht. Noch so eine vertrackte Perspektivsache. Alles ist im Fluss. Was früher gut und richtig war, mag sich heute wieder falsch anfühlen. Ich kann das dann doch verstehen, dass Ehen und Freundschaften nicht unbedingt für die Ewigkeit gemacht sind.


Eine Französin will den Camino Frances wegen den Energielinien laufen. Wenn ich sie richtig verstanden habe, weiß sie noch gar nicht, warum sie das tun will. Es gibt wohl viele Möglichkeiten, die einzelnen Wege zu gehen. Auch wenn ich ständig müde bin, gibt dieser Weg mir Ruhe und Zeit zum Nachdenken. Ich bin den Camino Frances schon einmal gelaufen, aber von Energielinien habe ich noch nie etwas gehört. Es ist einfach wunderbar, wenn ein kühlender Wind mir ums Gesicht weht. Wenn man bedenkt, dass ich den Weg gestern noch langweilig und öde fand, so sehe ich da eine gewisse Komik, wenn heute schon wieder alles anders ist. Was kann man schon gegen diese Unstetigkeit ausrichten? Man muss den Dingen auch Chancen geben, um sich zu entfalten. Zur linken und rechten glaube ich, Pfirsichbäume zu entdecken. Ob Energielinien wohl auch das Gefühl der Ruhe begünstigen können? Es ist ebenso komisch, wenn man – wie jetzt (vielleicht 12 Uhr) – die volle Sonne und nur eine Hälfte des Mondes am Himmel sehen kann. Müsste der Mond dann nicht auch für mich voll zu sehen sein? Die Sonne müsste ihn ja (an der Erde vorbei) nun voll anstrahlen können.


Schon komisch, wie die Leute mit ihren Autos an uns vorbei zur Arbeit fahren. Und daneben wir, die an ihnen vorbei nach Santiago pilgern. Zwei voneinander unabhängige Welten teilen sich denselben Platz.


Auf der anderen Seite: Ich glaub nicht, dass es so schnell noch mal die Möglichkeit gibt, französisch zu lernen. Jetzt bist du raus und hast schon alle Vorkehrungen getroffen. Wenn ich jetzt eine neue Arbeitsstelle anfangen würde, dann würde ich da ja erst mal länger bleiben wollen. Nur wenn ich in mich hineinhorche, kann ich mir das grad nicht vorstellen. Aber ich spüre, dass es mir nicht gut bekommt, Pläne – egal, in welche Richtung – für das Danach zu machen. Der Wind und die Sonne sind doch gut, wie sie gerade sind.

 

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