61. Wandertag

Morgens am Frühstückstisch unten in der Bar der Albergue in Palas de Rei. Welch glückliches Händchen auch, dass ich in dieser Albergue untergekommen bin. Zwar ist von den Spaniern niemand hier und die Nacht hab ich in dem Bett über dem Amerikaner verbracht, der eine Weltraumstation erfunden hat. Aber dafür kam gestern wie aus heiterem Himmel die liebe Valentine hereingeschneit. Wiedersehensfreude groß, Umarmung und Edoardo, der freundliche Italiener, war auch dabei. Wir haben uns dann an einen Tisch gesetzt und uns ganz lustig unterhalten. Tja, auch dieser Wunsch ist also, wenn auch verspätet, in Erfüllung gegangen. Pulpo war gestern übrigens Bestandteil des Tagesgerichts und so kann ich auch unter diesem Wunsch (wenn auch ohne Spanier) einen Haken machen. Wie gesagt, ich bin froh, dass ich hier abgestiegen bin. Valentine erzählte dann noch von Meg, die jetzt schon in Santiago ist und ihren Verlobten wiedergetroffen hat. Sie sah glücklich auf den Fotos aus. Ansonsten dürfte heute wieder ein Regentag bevorstehen.


Hab mir jetzt auch mal die Bilder und Zeichnungen von Wolfgang Herrndorf angeguckt. Also einfach nicht mein Geschmack. Ich kann mit dieser Stilrichtung zur Zeit zumindest nichts anfangen. Auch interessant, dass inklusive heute noch drei Wandertage bis nach Saint Jaques (Santiago) anstehen und weder Puls noch Geist nun erwähnenswerte Turnübungen machen. Da ist null Erwartung. Mag aber auch daran liegen, dass mein gestecktes Ziel hinter Santiago liegt. Über Finisterre und dann nach Muxia. Dort, wo das Meer liegt. Aber alles noch gar nicht greifbar. Ich erinnere mich an den Moment, in dem ich das erste Mal und für mich unerwartet (überraschenderweise) die Pyrenäen erblickt hatte. Das hatte schon was. Vielleicht ein bisschen wie Indiana Jones, als er durch Ölpampe und Ratten den Gullydeckel öffnete und dann »Ah, Venedig« sagte. Naja, ganz so war es bei mir nicht. Aber trotzdem immer noch lustige Filmszene, an die ich jedes Mal in ähnlicher Lage zurückdenke. Vielleicht auch, weil Robert mit den langen Haaren die mal erwähnt hatte.


Eben mit Valentine in einer Bar gesessen und sie hat mir ein bisschen Französisch, ich ihr ein bisschen Deutsch beigebracht. Die ist aber auch bezaubernd. Mit ihren langen Beinen und 23 Jahre.


Wenn ich jetzt wirklich nur noch einen Wunsch auf diesem Camino frei hätte, dann würde ich gern Mario wiedersehen. Mario, der das einfache Leben sucht und Frau und Bruder innerhalb eines Jahres verloren hatte. Wie er da neben mir ging und mir das auf Französisch erzählt hat und er dabei ordentlich schlucken musste. Es stimmt nicht, was ich den Leuten hier erzähle. Denn damals, im Kloster von Moissac, als ich mit Mario noch zufälligerweise das Zimmer teilte, da habe ich in der Dunkelheit das erste und bis jetzt einzige Mal auf dem Camino geweint. Ich wäre für ihn durch die Hölle und noch viel weiter gelaufen, für diesen Menschen, der mir in vielleicht nur 20 Minuten seine Geschichte erzählt hatte. Voilà, Mario. So kriegst du also doch noch einen Eintrag in meinem Bericht.

 

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