60. Wandertag

Auf dem Weg von Portomarín nach Palas de Rei. Noch 4 Tage bis Santiago. Befürchtung besteht, dass sie sich als 4 Regentage herausstellen werden. Kattun also. Eichelkattun war mir da lieber. Gestern war übrigens ein Tag, an dem ich die ganze Zeit an Rosenkohlpflanzen vorbeigelatscht bin. Ansonsten läuft hier noch eine US-Amerikanerin rum, die im Gehen die Bibel liest. Nach eigener Aussage 100 Seiten pro Tag. Hut ab, wer das durchziehen kann. Ich meine, in ihrem Blick und anhand des Zustandes ihrer Zähne eine gewisse Verrücktheit ableiten zu können. Sicherlich dürftiges Fundament für eine solche These. Aber ich bleib dabei. In wohldosiertem Ausmaß kann Verrücktheit ja auch etwas Charmantes haben. Außerdem bin ich äußerst froh, dass ich nicht weiß, was andere über mich denken. Für einige laufe ich sicherlich unter dem Radar, aber die anderen dürften bestimmt ein paar Vermutungen aufgestellt haben, die ich nicht mal im Flüsterton hören will. Wie gestern schon angerissen, hab ich bei einer »cerveza muy grande« »Arbeit und Struktur« angefangen. Das liest sich weg wie geschnitten Brot und ich hab gleich Lust, mir eines von Herrndorfs Bildern zu kaufen. Seit dem Tod sind die Preise – sofern Bilder überhaupt verkäuflich sind – bestimmt durch die Decke geschossen. Oh man, nicht nur ein hervorragender Schriftsteller, sondern auch ein wunderbar zweifelnder Mensch. Ich weiß ja selbst, dass das Geschriebene das eine und das Verhalten im wirklichen Leben etwas völlig anderes ist. Und so bleibt ein bisschen die nicht mehr aufklärbare Befürchtung, Angst sogar, dass er mich im wirklichen Leben vielleicht gar nicht gemocht hätte, oder – genauso schlimm – dass er total an mir abgeprallt wäre. Naja, aber das ist nur ein kleiner Geist, den ich nicht rufen will. »Tschick« + »Arbeit und Struktur« zählen ungeachtet dessen zu wirklich wichtigen Geschichten, egal, ob ausgedacht oder selbst erlebt. Ansonsten: Im Westen nichts Neues.


Mein Wunsch: Mit den Spaniern heute irgendwo gemütlich Pulpo essen.


Wenn ich mal kurz Revue passieren lasse, was ich bis jetzt hier so notiert habe, ganz kurz nur, dann gibt es in dieser kurzen Zeitspanne (61 Tage) viele Auf und Ab's. Und manchmal fühlt es sich so an, als würde ich wieder bei »Los« starten. Nichts dramatisch Lebensveränderndes gelernt. Alles Momentaufnahmen. Veränderung passiert Stück für Stück und braucht längere Zeit. Manchmal reicht ein ganzes Leben nicht. Das Ende naht, wir steh'n betroffen, der Vorhang fällt und immer noch alle Fragen offen. Aber vielleicht auch so: Wer gut und ordentlich in den Camino reinstartet und wer sagen kann: »Mein Leben ist eigentlich ganz in Ordnung«, der muss auch nicht die 180-Grad-Wende machen und alles auf links drehen. Im Kleinen hab ich hier Tricks und Kniffe gelernt, ich bin bauernschlauer geworden. Günter Grass hat das auch mal so formuliert, dass alles immer im Werden begriffen ist und ein Endzustand nie erreicht werden kann. So ähnlich will ich es auch sagen: Wenn in meinen Geschichten das Ende erreicht ist, so müssen die Charaktere am nächsten Morgen trotzdem noch frühstücken, Wäsche waschen und im allgemeinen wieder tätig werden. Auch wenn das niemand mehr mitbekommt.

 

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