44. Wandertag

Auf dem Weg von Burgos bis soweit mich meine Füße tragen. Wenn ich einen Wunsch frei hätte – und wünschen kann und darf man sich alles –, dann wäre es mir recht, wenn ich Pleun, David und diesen schrägen Typen, der angeblich eine Weltraumstation erfunden hat, nicht mehr wiedersehe. Um die anderen tut es mir leid, besonders um Ann-Catherine. Aber das war einfach zu bedrückend für mich, der gestrige Abend. Als hätte ich eine Wand von wohligem Glück, Verbundenheit und tiefstem Gedankenaustausch vor mir. Die palaverten da über Bier und Nachos hinweg über tiefste Themen, Schwächen, alles in völliger Offenheit. Schön und gut. Nur war ich offensichtlich nicht Teil davon. Ich hab gestern auf meinem Bett mit mir beschlossen, heut so weit zu wandern, wie die Füße tragen. Dieses Gefühl, diese Bedrücktheit, diese Ausgeschlossenheit war bei mir gestern ein echtes Thema. Keine Ahnung, ob das irgendjemand gemerkt hat. Aber ich hör jetzt auf mein Herz und wander. Mag ich alleine gehen oder weitere Gesellschaft finden, das hab ich nicht so sehr in der Hand. Zur Zeit will ich wohl lieber alleine gehen. Am Rande jedoch den lieben Nadaf gestern noch gebührend verabschiedet. Eine ganz und gar herausragende Persönlichkeit. Der Vollständigkeit halber haben sich die 4.50 € für den Besuch der Kathedrale in Burgos wirklich gelohnt. Für schmales Geld kriegt man ordentlich was gezeigt.


Eben Spencer kennengelernt. Netter Kerl aus Montana. Ansonsten grad Halbzeit in Hornillos del Camino. Ein geiler Burger mit gebratenem Ei und einer cerveza grande. Das dürfte so alles passen. Vielleicht noch 20 Minuten Pause. Dann geht's weiter. Ich darf auch nicht eilen. Sonst geht mir auf den letzten Metern die Puste aus. Der lange Peter hat mich das gelehrt. Möge er ewig leben.


»Noch einmal stürmt. Noch einmal, Freunde«. Auf dem Weg von Hontanas zum nächsten Ort. Mal gucken, was da kommt. Man darf durchaus den Optimismus nicht verlieren und man darf sich auch weiterhin Dinge vom großen Machtöffel wünschen. Was soll da schon schiefgehen?


Ich gehe grad eine Allee entlang und erinner mich wieder daran, dass ich hier diesen Jungspund das erste Mal gesehen hab. Wie er da am Straßenrand saß und irgendwas verzehrt hatte. Irgendwas war da mit Physik-Leistungskurs.


So, da sitz ich jetzt 39 km von Burgos in Castrojeriz in der Albergue Ultreia. Hier hab ich vor genau einem Jahr Lina kennengelernt. Nur leider bin ich der einzige Pilger hier. Aber vielleicht wird das doch noch ganz nett. Immerhin hab ich keine Schnarcher in meinem Zimmer. Heute bin ich auch ein bisschen deprimiert. Ich habe alle Leute zurückgelassen. Und nun bin ich hier ganz allein. Irgendwie auch nicht das Gelbe vom Ei. Aber ist es deshalb ein schlechter Tag? Ich muss bei mir bleiben. Im Hier und Jetzt. Das ist der Schlüssel. Und dann in Gott vertrauen. Tick, tack. Nur jetzt, nur hier. Da bin ich doch eigentlich froh, dass ich hier abgestiegen bin. Ich habe ein Bier für 1.50 € und schau im Gästebuch nach. Ich kann die Weinpresse doch noch verstehen lernen. Meine Wäsche wird gewaschen und getrocknet. Ist doch alles okay so. Und morgen dann ein entspannter Tag. Es gibt nicht nur einen Weg. Auf jeden Fall sehr ruhig hier. Hab das erste Mal in meinem Leben in das Gästebuch geschrieben und vor Aufregung bei meinem eigenen Namen das »e« vergessen. Gott, wie peinlich. Aber dafür über meinen Schatten gesprungen. Was der morgige Tag wohl bringen wird? Ich muss nun mal meinem Herzen folgen. Noch einmal: Bleib im Hier und Jetzt. Und der Wunsch für morgen? Ein Bier. Ein bisschen Gesellschaft. Schmerzfreie Beine. Und ich will Linas Rat befolgen und für eine Weile nur noch neue Herbergen aufsuchen. Der Rest war eh austauschbar, wenn ich mich recht erinner. Nur noch andere Herbergen. Heute ist also eine Art Abschiedsvorstellung in den eigenen Erinnerungen.


Bin ganz baff. War doch goldrichtig, noch einmal hier her zu kommen. Essen formidabel. Und danach noch eine private Führung im Weinkeller. Decken und Wände, die teilweise noch aus der Römerzeit (1. Jahrhundert) stammen. Andere Teile aus dem 12. Jahrhundert. Das alles erreichbar über eine kleine unscheinbare Treppe. Am Ende hat mich der Hauswirt noch ganz alleine in diesem historischen Keller zurückgelassen. »Tranquillo.« Ich konnte mir Zeit lassen, soviel ich wollte. Der ganze Keller für mich allein. Das war schon eine ganz besondere Stille da unten. Dann noch der Gedanke an Lina und Deborah. Vor allen Dingen Lina. War so ein schöner Abend damals. Und heute hatte ich da unten alle Zeit der Welt.

 

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